Apostelandacht zu Florence Nightingale, gehalten am 16. November 2014
Es gehört zu den Grundlagen unseres christlichen Glaubens, dass Krankheit und Leiden nicht abgeschoben und ausgegrenzt werden, dass der Schmerz keine Privatangelegenheit der Betroffenen bleibt, sondern, so wie es im 1. Kor. Vers 12 steht: „wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit"
Sich vom Schmerz der Kranken berühren lassen und helfen und lindern, wie Jesus es getan hat - das gilt bis heute weit über die christlichen Kirchen hinaus.
Krankenpflege gehört daher von Anbeginn zur christlichen Gemeinde dazu. Solidarisches Mitleiden ist ein Kennzeichen des christlichen Glaubens.
Florence Nightingale hat aus ihrem Glauben heraus gehandelt: sie hat die Organisation von Verwaltung und Pflege in den Krankenhäusern und die öffentliche Anerkennung von Ausbildung, Tätigkeit und Besoldung der Krankenschwester auf den Weg gebracht.
Dass es heute gemeindenahe und ambulante Krankenversorgung durch Diakonie- und Sozialstationen gibt, dass in Krankenhäusern Pflege, heilendes Handeln und Seelsorge zum Standard gehören, dass die Pflegeberufe trotz schwieriger Arbeitsbedingungen ein sehr hohes Ansehen haben - das geht auf Persönlichkeiten wie Florence Nightingale zurück, The Lady with the lamp.
Biographisches
Das muss man sich einmal vorstellen, da sitzt im Jahre 1845 eine junge 25 jährige Frau am Tisch und diskutierte mit ihrer Familie über ihre Pläne, in der Krankenpflege aktiv zu werden. Florence Nightingale war Monate zuvor Zeugin geworden, wie eine Kranke infolge der Unfähigkeit ihrer Pflegerin starb, und sie war zu der Ansicht gelangt, dass sie zunächst einer Grundausbildung in der Krankenpflege bedürfe. Sie wollte deswegen zunächst im Krankenhaus von Salisbury ein dreimonatiges Praktikum absolvieren und dann ein kleines Haus erwerben, in dem sie gemeinsam in einer Art protestantischer Schwesternschaft mit Frauen ähnlicher Herkunft und Ausbildung leben und Kranke pflegen würde. Der Vorschlag traf in ihrer Familie auf strikte Ablehnung.
Die strikte Ablehnung der Familie beruhte neben Nightingales anfälliger Gesundheit auf dem schlechten Ansehen des Krankenpflege- Berufs. Bei den Pflegekräften, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in britischen Krankenhäusern arbeiteten, handelte es sich in der Regel um ehemalige Dienstboten oder um Witwen, die keine anderweitige Anstellung fanden und daher gezwungen waren, sich ihr Brot durch diese Arbeit zu verdienen. Nicht besser war das Ansehen der Krankenpflegerinnen, die Kranke in deren Heim pflegten
Was war passiert, dass Florence Nightingale zu diesem Wunsch kam?
Im Sommer 1844 wurde sich Nightingale zunehmend sicherer, dass sie ihr Leben der Krankenpflege widmen wollte. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung war die Begegnung mit dem US-amerikanischen Arzt Samuel Gridley Howe und seiner Frau, die während ihrer Hochzeitsreise zu Gast im Haus ihrer Eltern waren. Howe hatte in den USA die erste Blindenschule errichtet; an ihn richtete Nightingale die Frage, ob er es für unpassend halte, wenn eine junge Frau wie sie sich in ähnlicher Form der Krankenpflege widme, wie dies katholische Nonnen der Pflegeorden tun. Howe antwortete ihr:
„Meine liebe Miss Florence, es wäre ungewöhnlich, und in England neigt alles was ungewöhnlich ist dazu als unpassend zu gelten. Aber ich sage Ihnen, gehen Sie diesen Weg, wenn Sie für diese Art zu leben eine Berufung fühlen. Handeln Sie entsprechend Ihrer Eingebung und Sie werden herausfinden, dass nichts Unpassendes oder Undamenhaftes daran sein wird, wenn Sie Ihre Pflicht zum Nutzen anderer tun.“
Nightingale sammelte ihre ersten Erfahrungen in der Krankenpflege zwar durch die Pflege kranker Familienmitglieder, begleitete aber bereits in sehr jungem Alter ihre Mutter und ihre Gouvernante bei Krankenbesuchen in den umliegenden Dörfern. Tagebucheinträge der erst zehnjährigen Nightingale über den Selbstmord einer jungen Mutter weisen darauf hin, dass sie dadurch sehr früh einen Eindruck der Lebensbedingungen der Armen erhielt.
Im Januar 1837 suchte eine Grippe-Epidemie den Süden Englands heim. Nightingale war eine der wenigen, die gesund blieben, und widmete sich vier Wochen lang intensiv der Versorgung Erkrankter. In diese Zeit fällt ein religiöses Erweckungserlebnis, das für sie so prägend war, dass die Jahrestage für sie zeitlebens ein besonderes Ereignis blieben.
Nightingale schrieb in ihr Tagebuch: „Gott sprach zu mir und rief mich in seinen Dienst.“ Welcher Art dieser Dienst sei, sagte die Stimme nicht. Sie gibt in ihrem Tagebuch auch keinen Hinweis darauf, in welcher Weise sich dieser Ruf äußerte. In ihren Notizen und Tagebüchern gibt es jedoch Hinweise, dass sie (auch) in späteren Lebensphasen den Ruf Gottes vernahm
Aus welchen Verhältnissen kam nun diese, man kann wirklich sagen, aufmüpfige Frau?
Nightingales Mutter Fanny entstammte einer politisch liberalen Familie. Der Großvater mütterlicherseits, der Kaufmann und Politiker William Smith, setzte sich im britischen Unterhaus für die Rechte der unteren Schichten, die weltweite Ächtung der Sklaverei und für Religionsfreiheit ein
Fanny und William Nightingale waren Anhänger des Unitarismus, einer liberalen und dogmenfreien christlichen Glaubensrichtung, die unter anderem die Lehre der Dreifaltigkeit Gottes ablehnte. Einzelne Elemente des unitaristischen Ethos waren für Florence prägend: der Glaube an sozialen Fortschritt und an eine moralische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sowie die große Bedeutung, die dem Dienst an der Gemeinschaft beigemessen wurde.
Wie verlief das Leben zu der Zeit, in einer Familie aus diesen Kreisen?
Es wurde gereist, anderthalb Jahre war Florence in Frankreich und Italien mit ihrer Familie unterwegs. Danach lebten sie abwechselnd auf ihren verschiedenen Anwesen, unterbrochen von längeren Besuchen bei Verwandten oder Aufenthalten in London während der Ballsaison.
Bei den Nightingales verkehrten angesehene britische Politiker und Leute aus der gehobenen Gesellschaft. Lang anhaltenden Einfluss auf Nightingale hatte die Bekanntschaft mit dem preußischen Botschafter Christian von Bunsen, der sowohl in Rom als auch in London die Gründung von Krankenhäusern angeregt hatte. Bunsen selbst hatte vergleichende religionswissenschaftliche Studien betrieben, und seine Gedankenansätze prägten auch Nightingales deutlich später erschienene Schrift „Suggestions for Thought“.
Aber beleuchten wir einmal die Situation der Kranken in dieser Zeit:
Wer in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkrankte, wurde in der Regel zu Hause gepflegt. Britische Krankenhäuser waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Wohlfahrtseinrichtungen, in denen Bedürftige kostenlos gepflegt wurden, wenn sie einen Empfehlungsbrief von einem der Unterstützer der Einrichtung vorweisen konnten. Tuberkulose-, Pocken- oder Krebskranke fanden keine Aufnahme, und ebenso wenig wurde Gebärenden Hilfe geleistet. Erst im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung der Bevölkerung gewannen Krankenhäuser in Großbritannien an Bedeutung für die allgemeine Gesundheitsfürsorge. Krankenhäuser im modernen Sinne entwickelten sich erst nach 1846, als die zunehmende Verbreitung der modernen Anästhesie andere Formen von Eingriffen ermöglichte, aber auch eine organisierte und sorgfältige ganztägige Betreuung der behandelten Patienten verlangte.
Zwei Jahre nach ihrem ersten Ersuchen unternahm Nightingale einen erneuten Versuch, die Erlaubnis ihrer Eltern zu erhalten, sich in der Krankenpflege fortzubilden. Diesmal schrieb sie an ihren Vater, weil sie sich nicht mehr in der Lage fühlte, dieses Thema ohne Emotionen direkt bei ihren Eltern anzusprechen. Auch diesmal traf sie auf Ablehnung.
Die Eltern schickten Florence mit Freunden der Familie erneut auf Reisen durch Europa und nach Ägypten; sie hofften, sie werde den Berufswunsch vergessen. Doch überall besichtigte Nightingale, neben den obligatorischen Ruinen, Krankenhäuser. Nightingale führte zwei Tagebücher während dieser Reise: eines, das offensichtlich dafür bestimmt war, auch von ihren Familienmitgliedern gelesen zu werden, und ein zweites, in dem sie ihre wachsende Verzweiflung über ihr sinnentleertes Leben niederschrieb. Endlich hatten die Eltern ein Einsehen und erlaubten ihr einen Besuch im Hospital von Pastor Theodor Fliedner und seiner Frau in Kaiserswerth am Rhein, heute ein Stadtteil Düsseldorfs.
In einem Brief an ihren Vater beschrieb Nightingale die Kaiserswerther Diakonie als „ärmlich und hässlich“ und merkte auch an, dass die Sauberkeit teilweise zu wünschen übrig lasse. Sie hielt aber auch fest, dass die Diakonie in allen wesentlichen Punkten ein Modell für Großbritannien sei. Beeindruckt war sie von der wöchentlichen Vorlesung, die Fliedner für die Schwestern abhielt, und von den strikten Regeln, die ein schickliches Betragen der Schwestern sicherstellen sollten. Auf den Stationen für Männer versorgten männliche Pfleger unter Leitung einer der Diakonissen die Patienten, und den Schwestern war es streng untersagt, nach 20 Uhr die Stationen für Männer zu betreten.
Nun endlich lernte sie Medikamentenkunde und Wundpflege, sieht Amputationen zu, kümmerte sich um Sterbende. Sie war glücklich: "Jetzt weiß ich, was es heißt, das Leben zu lieben", schrieb sie. In London verschaffte Florences Mutter ihr eine gehobene Stelle in einem privaten Pflegeheim für vornehme Frauen.
Das Pflegeheim mit seinen 27 Betten, erlaubte ihr, einige der Praktiken aus den von ihr besuchten europäischen Krankenhäusern umzusetzen. Der Ruf, den sich das Pflegeheim unter ihrer Leitung erwarb, führte dazu, dass sie bereits 1854 als Leiterin der Krankenpflegerinnen im King’s College Hospital im Gespräch war. Dieses Ausbildungskrankenhaus lag in einem der dicht besiedelten Elendsviertel Londons, und die Vorstellung, dass sie in diesem Krankenhaus und mit den dortigen Pflegerinnen arbeiten würde, löste die bekannten Vorbehalte ihrer Familie aus.
Aus diesen gesicherten Verhältnissen heraus ließ sie sich beurlauben um während der schweren Cholera-Epidemie Ende August 1854 im Middlesex Hospital Cholerakranke zu betreuen.
Acht Jahre Kampf, von dem sie oft gemeint hatte, er werde sie vernichten, hatten sie langsam aber stetig zu einem Charakter gehämmert, der ein Höchstmaß an Sanftmut mit einem stählernen Willen verband.
Dem nächsten Abschnitt ihres Lebens, der die Hölle des Krimkrieges beschreibt, stelle ich eine These von Florence vorweg:
„Es hat keinen Zweck, um Verschonung vor Seuche und Pest zu beten, solange man die Kloaken in die Themse laufen lässt. Gottes Wille soll geschehen, aber er geschieht nicht ohne die Arbeit des Menschen.“
Der Krimkrieg bringt die Wende in das Leben von Florence:
1854 brach der Krimkrieg aus, in dem England und Frankreich Russlands Griff nach Konstantinopel abwehrten. Mit Empörung lasen die Engländer in The Times mehrere Berichte vom Kriegsschauplatz, in denen auf die Leiden der kranken und verwundeten Soldaten aufmerksam gemacht und festgestellt wurde, dass für die Behandlung der Verwundeten nicht die nötige Vorsorge getroffen worden sei. Es fehle in den britischen Lazaretten an ausgebildetem Personal. Die Franzosen seien mit ihren Feldlazaretten den Engländern weit überlegen. „Ihre medizinischen Einrichtungen sind äußerst gut, ihre Ärzte sind zahlreicher, und außerdem haben sie die Hilfe der Barmherzigen Schwestern... Diese frommen Frauen sind ausgezeichnete Krankenpflegerinnen.“ Der englische Nationalstolz bäumte sich wütend auf. Die Times eröffnete eine Spendenaktion für die Verwundeten und Kranken an der Front. Ein Leserbrief in The Times fragte zornig: „Warum haben wir keine Barmherzigen Schwestern?“
Diesen Leserbrief las Sidney Herbert, der Kriegsminister. Sein Name wird uns in dieser Geschichte noch begleiten.
Nun, Sidney Herbert wurmte es, dass Privatleute für die Betreuung jener zahlten, die ihr Blut für das Land vergossen hatten. Er schrieb seiner alten Freundin Florence Nightingale einen langen Brief, in dem er sie bat, die Leitung einer Schwesternschar zu übernehmen und mit ihnen die Lazarette in der Türkei zu betreuen. „Sie würden natürlich volle Befehlsgewalt über alle Schwestern haben, und ich denke, ich könnte Sie der vollen Unterstützung und Mitarbeit von Seiten der Ärzte versichern, und Sie hätten auch unbeschränkte Vollmacht, die Regierung um alles anzugehen, was Sie für den Erfolg Ihrer Sendung für nötig erachteten.“ Der Brief kreuzte sich mit einem Schreiben Florenz an Sidney Herbert, in dem sie sich anbot, mit Krankenschwestern auf den Kriegsschauplatz zu gehen.
Innerhalb von vier Tagen stellte Florenz die Expedition zusammen, mit insgesamt 38 Frauen. Sie landeten nach einer strapaziösen Reise in Skutari, einer Vorstadt von Konstantinopel auf der asiatischen Seite des Bosporus.
Was Florence jetzt zu sehen bekam, war die Hölle. Eine riesige baufällige Kaserne, eilig in ein Lazarett verwandelt, empfing sie mit unbeschreiblichem Schmutz. Die Fußböden waren so verfault, dass sie nicht geschrubbt werden konnten; an den Wänden wimmelte Ungeziefer. Im Binnenhof stand ein See mit Schlamm voller Abfälle, Müll und Kadaver. Aus Kloaken stiegen Giftschwaden hoch, Ventilation gab es nicht. Miss Nightingale hatte in vielen Großstädten Europas die übelsten Slumwohnungen gesehen, aber in einer solchen Luft wie hier war sie nie gewesen. Hier wurden die Verwundeten von den Schlachtfeldern der Krim auf den Fußboden niedergelegt, in ihren zerfetzten, verschmutzten und blutgetränkten Uniformen. In dichten Reihen lagen sie in den Korridoren. Ratten flitzten umher und machten sich an den Bewegungsunfähigen zu schaffen. Es fehlte an allem. Es gab keine Betten, Laken und Hemden, keine Waschbecken, Handtücher und Seife, keine Tabletts, Teller und Bestecke, keine Tragbahren und Schienen, kein Verbandszeug, keine Medikamente. Küche und Wäscherei waren, gelinde gesprochen, unzulänglich.
In diesem Kasernen-Lazarett wurden Miss Nightingale und ihren entsetzten Schwestern Räume zugewiesen, die man in England nicht einmal den anspruchslosen irischen Landarbeitern als Unterkunft anzubieten gewagt hätte. Die Ärzte wollten die Frauen überhaupt nicht an die Kranken und Verwundeten heranlassen, weil es so etwas in der britischen Armee noch nie gegeben hatte: dass Frauen in einem Kriegslazarett Soldaten pflegten. Wochenlang mussten Florence und ihre Schar untätig bleiben, während Hunderte starben, die mit ihrer Hilfe vielleicht hätten gerettet werden können. Trotzdem hatte Florence den strikten Befehl gegeben, keine Schwester dürfe einem Kranken etwas reichen ohne ärztliche Verordnung. Nur so konnte sie das Vertrauen der Ärzte gewinnen, von deren Mitarbeit der Erfolg des Unternehmens abhing. Allmählich sahen die Ärzte ein, dass Miss Nightingale nicht vorhatte, sich in ihren Zuständigkeitsbereich einzumischen. Sie durfte zunächst die Küche reorganisieren, wo es ihr bald gelang, mehr Abwechslung in die Verpflegung zu bringen und zusätzlich stärkende Rationen zu beschaffen.. Sodann richtete Florence eine Wäscherei ein, damit die Bettwäsche und die Hemden endlich in heißem Wasser gewaschen werden konnten. Es gelang ihr nach einigen Wochen, einige Sauberkeit im Kasernen-Lazarett herzustellen. An dem erschreckenden Zustand der Abortanlagen, der Wasserversorgung und der Abwässer vermochte sie zunächst nichts zu ändern.
Bald konnten die Ärzte nicht umhin, sich der Schwestern als Helferinnen in der Krankenpflege zu bedienen; denn die Lage wurde katastrophal. Massen von Verwundeten wurden aus den Schlachten von Balaklawa und Inkerman eingeliefert. Das Riesengebäude war schon überfüllt. Auf eigene Kosten ließ Florence einen baufälligen Flügel durch 200 Arbeiter instand setzen und reinigen, so dass für 800 weitere Betten Platz geschaffen war. Die sich durch den ganzen Winter hinziehende Belagerung von Sewastopol brachte Ströme von Soldaten mit Erfrierungen, Cholera und Ruhr. Weihnachten 1854 lagen allein im Kasernen-Lazarett zweieinhalbtausend Mann. Auch die anderen Lazarette in Skutari, um die Florence sich zu kümmern hatte, waren überfüllt. Die Sterblichkeitsziffer war erschreckend hoch: 42%. Im Januar und Februar 1855 starben im Kasernen-Lazarett 2315 Mann. Die meisten erlagen nicht den Wunden oder Krankheiten, mit denen sie eingeliefert worden waren, sondern den Seuchen, die sie sich in diesem furchtbaren Lazarett zugezogen hatten. Bis Anfang 1855 waren auch sieben Ärzte und drei Schwestern gestorben.
Die Lady Superintendent — so lautete Florences Titel — war oft zwanzig Stunden an einem Stück auf den Beinen. Die Soldaten verehrten sie wie eine Heilige. Wenn sie einen Krankensaal betrat, verstummten die Flüche, und es wurde still wie in einer Kirche. Jeden, der niedergedrückt war, heiterte sie durch ihr freundliches Wesen auf. Die schwersten Fälle pflegte sie selbst. Sie blieb bei denen, die im Sterben lagen, denn sie wollte keinen allein lassen.
Mehreren Tausend Männern hat sie persönlich das Sterben erleichtert. Nachdem sie nach Anbruch der Dunkelheit mit einer Lampe die sechs Kilometer langen Reihen der Liegenden entlang gegangen war und überall nach dem Rechten gesehen hatte, begann ihre Schreibarbeit: Briefe an Hinterbliebene, Listen, Formulare, Materialanforderungen, offizielle Berichte, außerdem, auf Bitten Sidney Herberts, mehr als dreißig lange Briefe mit einer Fülle detaillierter und sorgfältig ausgedachter Reformvorschläge, manche vom Umfang einer Broschüre — das alles mit eigener Hand bei schlechtem Licht in ihrem ungeheizten Verschlag geschrieben.
Den anfänglichen Widerstand der Ärzte hatte Florence bald durch ihr diplomatisches Geschick und ihren Charme überwunden, und es entwickelte sich unter diesen härtesten Bedingungen eine kameradschaftliche Zusammenarbeit. Nicht so schnell fertig wurde sie mit dem Widerstand sturer Offiziere und schwerfälliger Heeresbeamten. Unter dem schlecht organisierten System der Kommiss-Bürokratie war die Versorgung der Lazarette in Skutari ebenso wie der Krim-Armee zusammengebrochen. In dem Durcheinander von Stellen und Kompetenzen blühte der Stumpfsinn, und die menschliche Unzulänglichkeit feierte Triumphe. Das hätte sie nicht gedacht, dass sie hier erbittert um Nachtgeschirre und Entlausungsmittel kämpfen musste. Tausend Hemden wurden im Lazarett benötigt, sie waren auch vorhanden, aber niemand wollte sie herausrücken, da keiner seine Zuständigkeit zu überschreiten wagte. Anfang Dezember 1854 kamen 20.000 Pfund Zitronensaft für die Truppen an, aber sie konnten erst im Februar ausgegeben werden. In der gleichen Zeit waren 173.000 Rationen Tee auf Lager, von denen die Soldaten nichts sahen. Warum? Weil es keinen Befehl gab, Zitronensaft und Tee in die Tagesration einzuschließen. Mancher Mangel war durch Dummheit, mancher auch durch Gaunerei verursacht. Ganze Schiffsladungen verschwanden auf rätselhafte Weise. Eine Riesenmenge Stiefel traf ein, von denen kein Paar passte, da sie alle unmöglich kleine Größen hatten. Kriegsgewinnler in der Heimat machten ein Vermögen, indem sie sonst nicht absetzbare Ausschussware an das Heer verkauften.
Kein Wunder, dass es an den notwendigen Dingen fehlte. Wo die Dienststellen versagten, sprang Miss Nightingale ein. Obwohl ihr vor ihrer Abreise vom Kriegsministerium gesagt worden war, an Medikamenten und Verbandstoff sei alles reichlich vorhanden, hatte sie in Marseille einen großen Vorrat eingekauft. Den konnte sie jetzt gut brauchen. Was sonst fehlte, kaufte sie in Konstantinopel ein: Bettpfannen, Schrubber, Essbestecke, Badewannen. Sie hatte reichlich Geld zur Verfügung: den Times-Fond, ihr eigenes Einkommen und sogar Geld von der Regierung. So konnte sie die Lazarette ausstatten und obendrein die unzulänglich gekleidete Armee, die über ein Jahr lang Sewastopol belagerte, mit Mänteln versorgen.
Dabei hatte sie Ungeheures geleistet. Sie hatte in einem halben Jahr erreicht, dass die schlimmsten Missstände in den Lazaretten in Skutari beseitigt wurden und die Sterblichkeitsziffer stark zurückging. Nachdem sie in den Lazaretten der Etappe Ordnung geschaffen hatte, unternahm sie drei Reisen auf die Krim, wo sie Truppenverbandsplätze und Feldlazarette inspizierte. Zu Pferd reiste sie von Lazarett zu Lazarett, bis sie am Krimfieber erkrankte. Doch bald machte sie sich wieder an die Arbeit. Sie sah die Soldaten als arme Opfer an, die sie verteidigen und schützen musste. Deshalb lehrte sie Offiziere und Beamte, die Soldaten nicht mehr wie Vieh, sondern wie Menschen zu behandeln. Sie ließ von England Schreibmaterial, Spiele, Fußbälle und Bücher kommen, richtete Soldatenheime, Lesehallen und Cafés ein und sorgte dafür, dass die Soldaten ihren überschüssigen Wehrsold, statt ihn zu vertrinken, ihren Familien nach Hause schicken konnten.
Das alles hatte Florence Nightingale gegen eine Welt von Widerständen durchgesetzt durch die Gewalt ihrer Sanftmut. Ein Beobachter schrieb von der Krim:
„Miss Nightingale ist eine bezaubernde Person, keiner von uns kann sie genügend bewundern. Eine vollendete Frau, die jeden gewinnt und beherrscht. Der gröbste Beamte wird weich beim Klang ihrer feinen Stimme. Alle gehorchen ihren Befehlen sofort.“ Ein anderer Mitarbeiter schrieb rückblickend: „Sie war immer ruhig und selbstbeherrscht. Sie war in allem eine vollkommene Dame, nie anmaßend. Ich habe sie nie mit veränderter Stimme sprechen hören.“ Eine andere Augenzeugin bestätigt ihre Selbstbeherrschung: „Sie ist so besonders sanft in Stimme, Auftreten und Bewegung, dass man, wenn man in ihrer Nähe ist, die Unbeugsamkeit ihres Charakters nicht spürt.“
Florence Nightingale hat in jener Hölle von Grauen, Schikane und Sturheit nie den Kopf verloren. Krach zu schlagen, hatte sie nicht nötig.
Obwohl sie gedemütigt, schikaniert und verleumdet wurde, zeigte sie keine Empfindlichkeit bei persönlicher Beleidigung und bei Bosheiten.
Nach dem Friedensschluss im März 1856 ging sie nach Balaklawa und blieb dort, bis im Juli die Lazarette aufgelöst wurden. Erst als der letzte Soldat heimgekehrt war, reiste sie nach Hause. Sie war inzwischen eine Nationalheldin geworden. Die genesenen Heimkehrer hatten allenthalben ihren Ruhm verkündet. Fantasiebilder von ihr und pathetische Lebensbeschreibungen wurden in Massen verbreitet, Schiffe und Rennpferde erhielten ihren Namen, Tausende Mädchen wurden auf den bisher nicht üblichen Namen Florence getauft, die Königin zeichnete sie mit einem eigens für sie geschaffenen Orden aus, Dichter schrieben Gedichte auf sie, und zahllose Volkslieder verherrlichten ihre Taten. Die Regierung wollte sie im Triumph auf einem Kriegsschiff heimholen lassen. Regimenter sollten ihr mit klingendem Spiel entgegenmarschieren, Städte wollten ihr Ovationen darbringen. Um all diesen Ehrungen zu entgehen, reiste Florence allein und inkognito nach England
Ein Jahr nach dem Ende des Krimkrieges schrieb Florence:
„Im Krimkrieg sind siebenmal so viel Soldaten an Krankheit gestorben wie an Verletzungen. Durch das unglaublich primitive Gesundheitswesen sind mehr Menschen umgekommen als durch russische Kugeln und Bajonette. Neuntausend meiner Kinder liegen aus Gründen, die man hätte verhindern können, in ihren vergessenen Gräbern. Aber ich kann es nie vergessen.“
Und….
„Für jene, die im Dienste ihres Landes gelitten haben und gestorben sind, können wir nichts mehr tun. Sie brauchen unsere Hilfe nicht mehr. Ihr Geist ist bei Gott, der ihn gab. Uns bleibt nur, dafür zu kämpfen, dass ihre Leiden nicht vergeblich waren — aus der Erfahrung zu lernen, damit solche Leiden in Zukunft durch Vorsorge und gute Einrichtungen verringert werden.“
Obwohl von den ungeheuren Strapazen des Krieges noch geschwächt, machte sich Florence sofort an die Arbeit. Nie trat sie in der Öffentlichkeit auf, nie hielt sie Reden. Einladungen, Empfänge zu ihren Ehren, Interviews lehnte sie ab.
Wahrscheinlich wäre ihr dieser Vortrag hier schon zu viel.
Wir erinnern uns an den Kriegsminister Sidney Herbert, dieser war nun von Lord Panmure abgelöst worden, einem schwerfälligen Mann, der ungern eine Initiative ergriff. Ihn zu bezaubern, war schier unmöglich, doch Florenz gelang auch das. Auf ihr Betreiben beantragte er die Bildung einer Königlichen Kommission, die dann auch zustande kam. Zum Glück wurde Sidney Herbert ihr Vorsitzender. Florenz Nightingale durfte als Frau nicht Mitglied einer Royal Commission sein, doch bat der Kriegsminister sie um ein Gutachten für diese Kommission. Auch die Dienstanweisung für die Mitglieder der Kommission stammte aus ihrer Feder, und diese wurde vom Minister ohne Änderung angenommen.
In kürzester Zeit beschaffte und bearbeitete Florence eine Riesenmenge von Berichten, Statistiken und Vergleichsmaterial aus anderen Ländern. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden Ernährung und Unterkunft des Soldaten in Friedenszeiten wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse waren erschütternd. Die Sterblichkeitsziffer unter den jungen Soldaten in den Kasernen war in Friedenszeiten doppelt so hoch wie die in der Zivilbevölkerung; an einigen Orten war sie sogar fünfmal so hoch — obwohl es sich bei den Soldaten um lauter junge, ausgesucht kräftige Männer handelte, die Zivilbevölkerung aber auch Alte, Schwache und Kranke umfasste. Die Jugend holte sich in den Kasernen den Tod. Es war, schrieb Miss Nightingale, als ob man Jahr für Jahr anderthalbtausend der gesundesten jungen Männer erschösse.
Florence verfocht die Ansicht, dass die Erhaltung der Gesundheit durch vorbeugende Maßnahmen ebenso wichtig sei wie die Wiederherstellung der Gesundheit. Es war nicht damit getan, dass die Übelstände erwiesen und die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Abhilfe auf dem Papier dargestellt worden waren. Es galt, die Pläne auch in die Tat umzusetzen. Die Notwendigkeit der Reform war unabweisbar. Doch Lord Panmure lehnte es ab, etwas zu tun.
Doch nun brach Florences Gesundheit zusammen. Schon auf der Krim hatte sie Dysenterie, Rheuma, Krimfieber, Ischias, Ohrenleiden, dauernde Erkältungen und Erschöpfungszustände gehabt. Sie war in einem zerrütteten Zustand nach England zurückgekehrt, hatte dann aber trotz Nervenleiden, Herzattacken und Ohnmachtsanfällen geschuftet wie zehn Mann. Sie hatte zahllose Kasernen und Militärhospitäler besichtigt. Sie erholte sich, aber fortan bis an ihr Ende verbrachte sie ihr Leben auf dem Sofa oder im Bett, und kaum einmal verließ sie ihre Wohnung. jahrelang glaubte man, sie werde jeden Augenblick sterben.
Die Ärzte verschrieben ihr absolute Ruhe. Ihre Familie beschwor sie, sich zu schonen. Sie aber wollte nichts von Ruhe wissen. Sie hatte eine Aufgabe, sie musste arbeiten, koste es was es wolle. Konnte sie nicht mehr zu den Mächtigen gehen, nun wohl, dann mussten die Mächtigen zu dem kranken Fräulein Nightingale kommen und sich von ihr sagen lassen, was sie zu tun hätten und was sie verkehrt gemacht hätten. Und so geschah es auch.
Nach vielen Enttäuschungen schöpfte Florence erneut Hoffnung, als 1859 Sidney Herbert wieder Kriegsminister wurde. Er war ihr alter Freund und seit langem ihr überzeugter Mitstreiter für die Reform. Er übte selbstlose Pflichttreue und hatte feste Grundsätze. Dieser erfahrene Staatsmann schrieb: „Täglich bin ich immer mehr davon überzeugt, dass in der Politik, wie in allem, nichts recht sein kann, das nicht in Einklang steht mit dem Geist des Evangeliums.“ Er unterschrieb Verfügungen und Erlasse im Sinne der Gesundheitsreform, doch ihre Ausführung wurde von der sich sträubenden, ständig quertreibenden Ministerialbürokratie vereitelt. Das Dickicht verworrener Kompetenzen ermöglichte es jedem Beamten, Verordnungen von oben mit gutem Gewissen zu sabotieren. Der Verwaltungsapparat erwies sich als Hindernis für die Gesundheitsreform. Wer diese wollte, musste zuerst das Kriegsministerium reformieren.
Florence Nightingale und Sidney Herbert packten also die Reform des War Office an. Bald aber erhob sich ein neues Hindernis: Sidney Herbert war schwer krank und wurde immer schwächer. Er zwang sich trotzdem zur Arbeit, schaffte es aber nicht. Die Ärzte forderten absolute Ruhe. Florence protestierte: Sie liege seit Jahren auf den Tod und habe trotzdem gearbeitet; ihr Fall beweise, dass die Ärzte zu schwarzsähen. Jetzt, wo es ums Ganze gehe, dürfe Sidney Herbert nicht nachlassen. Unerbittlich trieb sie ihn an, die Reform des Kriegsministeriums zu Ende zu bringen. Doch Sidney Herbert erlag seinem Leiden. Seine letzten Worte waren: „Die arme Florence ... die arme Florence ... unser gemeinsames Werk unvollendet.“
Florence schrieb in einer Würdigung Sidney Herberts: Er sei „der erste Kriegsminister gewesen, der sich ernstlich die Aufgabe gesetzt habe, Menschenleben zu retten.“
Weiter ging die Arbeit. In einem einzigen Jahr z. B. wurde Miss Nightingale unter anderem beschäftigt mit einer neuen Dienstanweisung für Apotheker, Vorschlägen für die Ausstattung von Militärhospitälern, einem Plan für die Revision der Heeresrationen, Instruktionen für Stabsärzte, Vorschriften für die Behandlung von Gelbfieber und für das Lieferantenwesen in den Kolonien, einem verbesserten Verpflegungsplan für Truppentransportschiffe, Vorschlägen für Stellenbesetzungen in den Militärhospitälern, Anweisungen zur Behandlung von Cholera. Das alles erledigte sie neben der Hauptarbeit für die Verbesserung der Truppenunterkünfte. Sie kümmerte sich um den Bau von Latrinen, Pferdeställen, Kasernen und Lazaretten. Für den Sanitätsdienst des Heeres entwarf sie ein Kostenberechnungssystem, das um 1865 eingeführt wurde und noch achtzig Jahre später in Gebrauch war. 1947 hat ein Parlamentsausschuss mehrere Systeme, die in anderen Abteilungen erst vor wenigen Jahren eingeführt worden waren, als unzulänglich verworfen, dieses eine aber als bewundernswert bezeichnet und sich nach dem Urheber erkundigt. Man bekam die Antwort: „Miss Nightingale!“
Als die Meuterei der Truppen in Indien ausbrach, erklärte sie sich trotz ihres schlechten Gesundheitszustands bereit, sofort dorthin zu reisen und Dienst zu tun. Daran war nun nicht zu denken. Aber ihre Aufmerksamkeit wurde auf das indische Gesundheitswesen gelenkt. Sie begann eine riesige Korrespondenz mit Eingeborenen und Beamten in Indien, forderte von allen Militärstationen in Indien Berichte an und analysierte sie. Das Aktenmaterial über die indischen Verhältnisse, das sie durcharbeitete, umfasste viele Tonnen von Papier, füllte ein ganzes Zimmer in ihrem Haus und benötigte bei jedem Umzug allein zwei Möbelwagen. Ihr zusammenfassender Bericht war provozierend und sollte es auch sein. Die Todesrate der britischen Truppen in Indien betrug 69 pro Mille. Alle zwanzig Monate starb in Indien von jedem Regiment eine Kompanie — nicht an Tropenkrankheiten, sondern an Baumängeln der Kasernen, an Schmutz und schlechtem Wasser. Florence Nightingale wurde eine Expertin für indische Probleme: Bewässerung, Ackerbau, Kanalisation, Transport, Bodenreform und Steuern. Sie versuchte Gesetzgebung, Verwaltung und Personalpolitik zu beeinflussen, manchmal mit Erfolg, manchmal vergeblich.
Aber auch an Enttäuschung fehlte es ihr nie. Mehrere Male fegte ein plötzlicher Wechsel des Kabinetts ihre schon der Verwirklichung nahegebrachten Pläne zur Seite. Wie oft schrieb sie in Briefen und auf Tagebuchblättern, sie sei „völlig gescheitert“! Schon auf der Krim hatte sie solche Anfälle von Schwermut. Sie sah immer nur das nicht Erreichte, nie die errungenen Erfolge, die doch wahrhaftig beträchtlich waren. Doch dank ihrer Bemühungen sank die Sterblichkeit in der Heimatarmee, die 1857 noch 17,5 ‰ betrug, stetig bis auf 2,4 ‰ im Jahre 1911.
Lange hatte sie gemeint, die Zivilkrankenhäuser seien in einem wesentlich besseren Zustand als die Militärhospitäler. Sie war entsetzt, als sie gewahr wurde, dass sie „genauso schlimm oder noch ärger“ waren. Auch sie hatten eine viel zu hohe Sterblichkeitsziffer, weil sie die elementarsten Grundsätze der Hygiene missachteten und eine Menge typischer „Hospitalkrankheiten“ hervorriefen, mit denen die Patienten erst nach ihrer Einlieferung angesteckt wurden und die ihren Tod verursachten. Florence war der Meinung: Die Abhilfe dieser Übelstände liegt nicht in Gebet und Selbstaufopferung, sondern in besserer Durchlüftung, größerer Sauberkeit, besserer Entwässerung und besserer Ernährung.
Bald dehnte sich ihre Arbeit auch auf das zivile Gesundheitswesen aus. Sie verfasste ein Buch über Hospitäler, in dem sie von der Farbe der Krankenzimmerwände bis zur Warmhaltung von Speisen alle zu verbessernden Dinge behandelte. Sie erstattete Gutachten über Krankenhauspläne in Berlin, Lissabon und Holland. Sie kümmerte sich um die Organisation von Wochenpflege, Hebammenschulung, Armenhauskrankenpflege, ländlicher Gesundheitspflege, Hauspflege und der Pflege für arme Wöchnerinnen. Sie schrieb Bemerkungen über Krankenpflege, ein Buch, das viele Auflagen erlebte und ins Deutsche, Französische und Italienische übersetzt wurde.
Mit den 45.000 Pfund Sterling, welche das englische Volk am Ende des Krimkrieges für sie gesammelt hatte, gründete Florence Nightingale 1860 in London eine Schwestern-Schule, an der künftige Krankenpflegerinnen ihre Berufsausbildung erhielten. Die Schule sollte technisches Können vermitteln und Charaktere bilden. Jedes eintretende Mädchen wurde von Florence persönlich geprüft und weiter beobachtet. Mit den Krankenpflegerinnen, die nach ihrer Ausbildung eine Stelle angetreten hatten, blieb Florence brieflich in Verbindung. Sie hörte nie auf, ihren Schülerinnen die geistliche Natur ihrer Berufung vor Augen zu halten und sie nicht nur zu einem hohen Leistungsstandard anzuspornen, sondern auch zu einem Wandel in der Gegenwart Gottes. Ihre persönliche Fürsorge für die Schülerinnen war rührend. Trat eine Pflegerin eine neue Stelle an, so sandte Florence Blumen dorthin. Kranken Pflegerinnen ließ sie besondere Gerichte zubereiten. Manchmal schickte sie erholungsbedürftige Schwestern auf ihre Kosten an die See oder aufs Land. Schon 1887 hatten alle fünf Erdteile Oberinnen aus der Nightingale-Schule.
Unter Florence Nightingales Papieren finden sich zahllose geistliche Betrachtungen, die sie viele Jahre hindurch aufgezeichnet hat. Meditationen in der Sprache der Mystik über das Einwohnen Gottes in der Seele. Da lesen wir etwa:
„Religion ist nicht Andacht, sondern Arbeit und Leiden aus Liebe zu Gott.— Wir können nur durch Ihn handeln und sprechen und denken. Was wir nötig haben, ist die Entdeckung jener Gesetze, die uns in den Stand setzen, stets in bewusster Übereinstimmung mit Ihm zu handeln und zu denken... - Es wird keinen Himmel geben, wenn wir ihn nicht machen. Und es ist eine sehr kümmerliche Theodizee, die uns lehrt, dass wir uns nicht für diese Welt bereiten sollen, sondern für eine andere. Müssen wir Gott nicht schon hier ‚besitzen‘, wenn wir Ihn im Jenseits ‚besitzen‘ wollen? — Gott, du weißt, dass ich durch all diese schrecklichen zwanzig Jahre von dem Glauben unterstützt wurde, dass ich mit dir arbeite, der du jeden zur Vollkommenheit führst, auch unsere armen Schwestern.“
Als die Zeitungen 1907 meldeten, dass Miss Nightingale als erste Frau den Order of Merit, Englands höchste Auszeichnung, erhalten habe, waren die meisten überrascht; sie dachten, sie sei schon vor einem halben Jahrhundert verstorben. So sehr war ihre bahnbrechende Arbeit im Dienste der Menschheit im Verborgenen geschehen. Aus aller Welt regnete es jetzt Auszeichnungen auf sie herab. Von diesen Ehrungen hat sie nichts mehr wahrgenommen, denn seit 1901 war sie blind und meistens geistig abwesend. Erst 1910 starb sie, im stolzen Alter von 90 Jahren.
Ihr unermüdlicher Einsatz aber regte unter anderem später Henry Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes an.
Er erklärte:
„Obgleich ich als der Gründer des Roten Kreuzes und als Schöpfer der Genfer Konvention bekannt bin, kommt doch alle Ehre der Schaffung der Konvention einer Engländerin zu. Was mich während des Krieges von 1859 dazu brachte, nach Italien (auf das Schlachtfeld von Solferino) zu gehen, war das Werk der Florence Nightingale in der Krim.“
Auch die Genfer Konvention des Jahres 1864, die völkerrechtlich verbindliche Regeln für die Versorgung von Kranken und Verwundeten in Kriegszeiten festschreibt, dürfte durch Nightingales berühmt gewordenen Einsatz auf der Krim beeinflusst worden sein.
Wir haben allen Grund dankbar zu sein - für die Lady with the lamp und allen, die es ihr gleichtun. Männer und Frauen, die sich einsetzen, damit unsere Welt ein menschenfreundliches Gesicht behält.
Susanne Babiel
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